Neue Zürcher Zeitung
Das historische Buch: Macht und Ästhetik der Karten - Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis in die Gegenwart. «Polen war vernichtet und aufgeteilt. Wir waren Zeugen, wie Stalin auf einer Landkarte mit einem dicken Bleistift eigenhändig eine Linie zog, wo die Südgrenze Litauens an die Ostgrenze Deutschlands stiess und von da nach Süden bis zur tschechoslowakischen Grenze lief.» Die Erinnerungen des deutschen Diplomaten Gustav Hilger an die zweite deutsch-sowjetische Vereinbarung zur Aufteilung Polens vom 28. September 1939 dürften wie kein zweites Dokument das Dilemma einer Kunst dokumentieren, die stets in gefährlicher Nähe zu den Mächtigen der Welt stand. «Die Macht der Karten» hat die in Darmstadt lehrende Historikerin Ute Schneider ihre «Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute» genannt, und wer sie gelesen hat, begreift, wie treffend dieser Titel gewählt ist: Die Linie eines simplen Bleistifts sollte das politische Geschick einer ganzen Nation besiegeln, auf wenigen Zentimetern Papier konnte sich das Leid ungezählter Menschen entscheiden. Politische Karten, das illustriert der von Stalins Hand gezogene Strich durch das polnische Territorium, sind vor allem hochgradig abstrakte Darstellungen des Raumes, Abbildungen geographischer Relationen, über die der Betrachter allzu leicht den Blick auf die konkrete Wirklichkeit verliert. Repräsentation und Neuordnung Wie sehr diese Wirklichkeit zur Verfügungsmasse kühl kalkulierender Strategen werden kann, das lehrt auch ein Blick auf die Binnengrenzen Afrikas, deren europäische Urheber zwar einen ausgeprägten Sinn für klare geometrische Verhältnisse, einen umso geringeren hingegen für historisch gewachsene Ordnungen hatten. Wie entschlossen die Vordenker der europäischen Expansion sogar ihnen nahezu unbekannte Räume zerteilten, davon zeugt schon eine der ersten auf Grundlage exakter geographischer Vermessung beschlossenen Gebietsaufteilungen: der Vertrag von Tordesillas, in dem Spanier und Portugiesen sich 1494 über die westöstliche Aufteilung des soeben entdeckten Amerika einigten – und das, obwohl die Dimensionen der theoretisch auseinander dividierten Landmasse noch kaum bekannt waren. Dennoch erfüllte sich für die beiden Nationen am Ende der Wunsch aller neuzeitlichen Strategen, mit dem Besitz von Karten auch in dem des entsprechenden Landes zu sein. Mit Hilfe seiner Karten macht sich der Mensch die Welt untertan. Zugleich aber, und auch das spricht für die «Macht» der Karten, bildet er die Welt in seinen Karten nicht nur ab, sondern schafft sie zugleich neu, ordnet die Erde nach seinem Bilde. So präsentiert bereits eine der ältesten Weltkarten überhaupt, eine aus Mesopotamien stammende Tonscheibe, die Welt als Kreis mit Babylon im Zentrum. Und dass alle Wege nach Rom führen, ist für den Autor der bekanntesten Strassenkarte der Antike, der «Tabula Peutingeriana» aus dem vierten Jahrhundert, ebenso selbstverständlich wie für den Zeichner der aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammenden Ebstorfer Weltkarte der Entschluss, ins Zentrum seines Werks Jerusalem zu rücken: das irdische ebenso wie das himmlische, zwischen denen er nicht unterscheidet. Auch zögert er nicht, auf der gesamten Weltkarte nur zwei Städte durch das Symbol einer Fahne herauszuheben: Jerusalem und Lüneburg. Dort, in Lüneburg, nämlich residierten die dem Kloster Ebstorf verbundenen Welfen, die, so wünschte es der Kartograph, umgehend einen Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems starten sollten. Denn die Heilige Stadt war nichts Geringeres als das ordnende Zentrum der Welt; an ihren Rändern hingegen lauerte das Chaos – im Norden etwa die menschenfressenden Gog und Magog und im Süden Vogelmenschen oder solche ohne Ohren, die der Kartograph ebenfalls in seinem Werk verzeichnete. In bester mittelalterlicher Tradition verband der Ebstorfer Zeichner in seiner zwölf Quadratmeter grossen Karte biblische und antike Mythologie mit Kommentaren zur politischen Situation seiner Zeit. Allerdings: Orientierung vermochte seine Karte einzig «inneren» Reisen zu geben. Wer in die wirkliche Welt hinauswollte, musste sich anderswie helfen. Doch die symbolische Verzeichnung der Welt ging keineswegs mit dem Mittelalter unter. Spuren dieser Tradition halten sich bis heute. So stellt ein im Jahr 2004 aktualisierter Weltatlas für Kinder den afrikanischen Kontinent fast ausschliesslich als Reich der Tiere dar: Löwen, Schimpansen und Giraffen bevölkern den Kontinent, während auf menschliche Existenz allein ein Hüttendorf und einige Baumhäuser schliessen lassen. Afrika, so die unterschwellige Botschaft, ist ein Kontinent bar aller zivilisatorischen Errungenschaften, und Menschen sind dort auch kaum zu finden. So entspricht die Aussage dieser zeitgenössischen Karte für Kinder recht genau jener, die die 1822 veröffentlichte «Clark's Chart» ihren Lesern tat: Sie zeichnete den Globus in fünf verschiedenen Farben, deren jede einen bestimmten zivilisatorischen Entwicklungsgrad auf der Skala von «wild» (rot) bis «aufgeklärt» (gelb) markierte. In Afrika, konnte der Leser der entsprechenden Farbgebung entnehmen, lebten demnach ausschliesslich «Wilde» und «Barbaren». Nüchternheit und Wissen Vergleichsweise zurückhaltend fällt dagegen die Karte des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1515) aus, die in Schneiders Darstellung für den Übergang von der mittelalterlich-symbolischen zur modern-geographischen Raumdarstellung steht. Zwar rückt auch diese Karte Jerusalem noch in den Mittelpunkt der Welt, doch bleibt die Heilige Stadt der einzige symbolische Bezugspunkt. Zwölf augenscheinlich kräftig blasende Köpfe im «Rahmen» der Karte symbolisieren die Windrichtungen, in deren Koordinatennetz der Zeichner die Kontinente anordnete. Alles Spekulative verbannte Schedel aus seiner Karte streng: Die seltsamen sechsarmigen und Vogelmenschen mochte es auf der Welt vielleicht geben; solange sie aber niemand tatsächlich gesehen hatte, verbannte er sie an den Rand – anders als sein italienischer Kollege Fra Mauro, der den legendären Priesterkönig Johannes auf seiner 1459 erschienenen Weltkarte noch im Inneren Abessiniens ansiedelte. Doch je nüchterner die Karten allmählich gestaltet wurden, umso grösser war das Wissen, das ihre Herstellung voraussetzte. Detailliert schildert Schneider die Entwicklung der geographischen Kenntnisse, die eng mit den Fortschritten der Seefahrt verbunden waren – deren Erfolg zu grossen Teilen von verlässlichen Karten abhing, seinerseits aber auch zu deren Perfektionierung beitrug. Mehrere Jahre dauerte die Herstellung eines seefahrttauglichen Atlasses – was die Preise derart in die Höhe trieb, dass sich die Kartographen noch im 18. Jahrhundert genötigt sahen, vor minderwertigen Raubkopien zu warnen. «Eigennützige Kupferhändler», so der Hinweis, hätten sich «in das Handwerk Land-Charten zu verfertigen, so eingemenget, dass sie selbst, durch allerhand liederlich Hand-Griffe, die Charten zusammen stümpern, und aus denen von anderen verfertigten Charten rauben». Alles andere als Stümperei ist indes Schneiders Geschichte der Kartographie. Historisch akkurat und detailliert führt sie durch die Geschichte und Problematik der Kartographie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Optisch überaus attraktive Begleitung erhält ihr Text durch die zahlreichen Reproduktionen von unterschiedlichsten Karten und Atlanten verschiedenster räumlicher und zeitlicher Provenienz. Die Macht der Karten, das legt dieser wunderbare Band nahe, ist nicht zuletzt eine ästhetische. Kersten Knipp
Verfasserangabe:
Ute Schneider
Jahr:
2004
Verlag:
Darmstadt, Primus
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ISBN:
3-89678-243-6
Beschreibung:
144 S. : Abb.
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Mediengruppe:
Buch